Im Frühjahr 2020 waren selbst Spielplätze wegen der Pandemie gesperrt. © Julian Stratenschulte/​dpa

Hinzu kommt, dass vielen Kinderärzten die seelischen Nöte ihrer kleinen Patientinnen viel drängender erschienen als die Risiken von Covid. Das mag auch damit zusammenhängen, dass in den Behandlungszimmern viel öfter niedergeschlagene Kinder saßen, die von geschlossenen Schulen und Jugendclubs berichteten, als Kinder mit coronabedingter Atemnot.

Ein Hauptargument, das die Kinderarztfachgesellschaften immer wieder vorbringen, lautet, dass die psychischen Schäden bei Kindern durch die Corona-Maßnahmen deutlich schwerer wögen als die Risiken durch die Erkrankung selbst. Das sei auch der Grund, warum die DGPI seit Langem betone, die Schulen offen zu halten, und warum man auch rate, in Schulen und Kitas auf die Quarantäne für Kontaktpersonen zu verzichten und auch nur dann zu testen, wenn Symptome vorlägen, sagt Tobias Tenenbaum.

Den Experten für die Kinderpsyche, Julian Schmitz, stören solche Aussagen sehr. "Vertreter der Kinderarztverbände äußern sich ständig zu psychischen Folgen der Pandemiemaßnahmen, ohne das Thema zu durchdringen. Sie liefern eine unterkomplexe Darstellung, die niemandem hilft", sagt der Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig. Daten, die er und sein Team als Preprint veröffentlicht haben, zeigen, dass eben nicht nur Corona-Maßnahmen wie das Schließen von Schulen und Freizeiteinrichtungen auf die Kinderpsyche schlagen.

Sondern die Pandemie insgesamt, mit all ihren Unwägbarkeiten. "Ein starker Belastungsfaktor für Kinder sind die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit, die hohe Infektionszahlen mit sich bringen", sagt Schmitz. "Hohe Infektionszahlen bedeuten Stress für ein Kind. Es weiß nie, ob es morgen in Quarantäne muss, ob es selbst krank wird und vielleicht seine Familie ansteckt." Und ob die eigene Mutter dadurch vielleicht sogar den Job verliere, weil sie in prekärer Arbeit ist. Vor allem für sozial benachteiligte Kinder sei das eine extrem schwierige Lage. Es sei deshalb nicht damit getan, zu sagen, Kinder spielten in der Pandemie keine Rolle, und dass mit offenen Schulen schon alles gut werde.

Jana Schroeder teilt diese Sicht: Masken, gute Lüftung und kluge Schulkonzepte könnten die Kinder womöglich auch vor psychischer Belastung bewahren. Ebenso die Impfung: "Dieses Mantra einiger Kinderärzte, es dürfe auf keinen Fall um Fremdschutz gehen bei der Kinderimpfung, sondern ausschließlich um den Selbstschutz der Kinder, ist nicht logisch: Wie fremd sind denn die eigenen Großeltern, die ich ja als geimpftes Kind seltener anstecke?"

Schmitz fordert, Infektionsschutz und psychische Gesundheit endlich zusammenzudenken. So schlägt er es gemeinsam mit Kollegen aus verschiedenen Fachrichtungen in einer Stellungnahme vor. Unter anderem fordern die Autorinnen und Autoren, die S3-Leitlinie für sichere Schulen umzusetzen, die bei hohen Infektionszahlen auch Wechselunterricht empfiehlt. Sollten Schulen erneut geschlossen werden, müssten vor allem für sozial benachteiligte Familien Notbetreuungskonzepte entwickelt und technische Voraussetzungen geschaffen werden. Und die Autoren schlagen eine Impfkampagne speziell für Kinder vor, wobei diese auch an Schulen geimpft werden könnten.

Um Schulen offen zu halten, war vielerorts Lüften angesagt – auch im Winter. © Ina Fassbender/​AFP/​Getty Images

All das sei bis jetzt versäumt worden. Auch weil sich organisierten Kinderarztverbände und -fachgesellschaften so schwer damit täten, anzuerkennen, dass es eben auch für Kinder ein Restrisiko gebe und es davon abgesehen auch unter psychologischen Gesichtspunkten sinnvoll sei, die Infektionsdynamik bei Kindern so gut es geht zu kontrollieren. "Kinderschutz und Infektionsschutz gehören zusammen, man sollte sie nicht gegeneinander ausspielen und sie sind selbstverständlich auch miteinander vereinbar", sagt Schmitz.

Experten gehen davon aus, dass das Infektionsgeschehen im Herbst wieder deutlich zunimmt und sich dann noch mehr auf die Schulen fokussieren könnte – weil dort die geringste Immunität ist. "Im Interesse der Kinder", sagt Schmitz, "wäre es sehr sinnvoll, sich jetzt auf ein Szenario für den Herbst mit einem hohen Infektionsgeschehen in den Schulen vorzubereiten." Sonst kann es sein, dass den Eltern und Kindern abermals ein Winter voller Unwägbarkeiten bevorsteht.